Ich drücke meine Nase in den weichen Stoff ihres Pullovers. Wir schaukeln sanft vor und zurück in meinem kleinen Zimmer mit den großen Fenstern. Im Hintergrund zählt Tom Rosenthal bis 157. Es ist als wäre keine Zeit vergangen. Die Umarmung ist genau wie alle anderen davor und gleichzeitig ist diese Umarmung für uns mehr wert als jede andere in den vergangenen Jahren. Denn es ist 18 Tage her, dass ich einer anderen Person zuletzt so nahe war. Wir können es beide kaum glauben. Immer wenn wir uns voneinander lösen, fallen wir uns sofort wieder in die Arme. In 11 Minuten und 56 Sekunden – vielleicht etwas mehr, vielleicht etwas weniger.
Als ich danach in der Küche Kaffee mache, wird mir klar was das alles wirklich bedeutet. Die Zimmer Türen meiner WG stehen wieder offen. Wir rufen Dinge durch den Flur. Können uns sehen, hören und anfassen. Als ich den alten Kaffeesatz aus der French Press kratze, laufen mir Tränen über die Wangen. Ich mache unbeirrt weiter. Spüle das Glasgefäß sauber und befülle es mit frischem Kaffee. Gestern hatte ich noch nicht zu hoffen gewagt, dass wir uns wiedersehen würden. Ich hatte mich gar nicht mehr getraut, mich auf irgendetwas zu freuen. Die Vorfreude und damit ja auch irgendwie die Hoffnung habe ich in meinem Kopf abgestellt.
Meine Tränen schmecken salzig. Sie fallen mir direkt in den Mund, weil ich so sehr lachen muss. Ich kann gar nicht mehr aufhören zu lachen und dabei zu weinen. Es ist einfach zu viel Glück auf einmal.
Meine Tränen schmecken salzig. Sie fallen mir direkt in den Mund, weil ich so sehr lachen muss. Ich kann gar nicht mehr aufhören zu lachen und dabei zu weinen. Es ist einfach zu viel Glück auf einmal. Zwei Wochen lang bin ich nur mit Maske durch Wohnzimmer, Küche und Bad gelaufen und habe mich eigentlich nur in meinem 12qm-Zimmer länger als eine halbe Stunde aufgehalten. In unserer WG-Gruppe haben wir Emojis von rennenden Menschen geschickt, wenn wir unsere Zimmer verlassen haben. Das Leben war angehalten. Nicht so wie es seit einem Jahr angehalten ist, es war ernsthaft angehalten. Ja, klar, ich habe gelebt. Es war okay. Es war sogar einigermaßen entspannt. Ich hab nicht wahnsinnig viel gelitten, aber erst jetzt ist die Play-taste wieder gedrückt. Jetzt stehen unsere Zimmertüren wieder offen. Ich kann einfach an die Zimmertüren meiner Mitbewohner*innen klopfen und nach einem halblauten „ja?“, darf ich endlich wieder meinen Kopf zu ihnen hereinstecken.
Ich hab anfangs gedacht, dass so eine Isolation das Schwein jetzt auch nicht mehr dick macht (nein, wie geht das Sprichwort? Egal!). Jedenfalls dachte, ich dass sich ja gar nicht so viel ändert. Die paar Kontakte, die ich gerade habe, kann ich auch kappen, dass verändert die Situation auch nicht mehr wirklich. Dabei habe ich aber die ganze Zeit den wichtigsten, offensichtlichsten Punkt vergessen: In der Isolation fehlen meine Mitbewohner und die sind meine wichtigsten Sozialkontakte. Bevor ich heißes Wasser zum Kaffee gieße, wische ich mir die Tränen aus dem Gesicht.

An diesem ersten freien Tag sitzen wir drei den ganzen Tag lang zusammen. Erst mit Kaffee, dann mit Brot, Käse und Gurkenscheiben, abends mit Take-Away essen und nachher mit Schokolade und abgelaufenem sparkling wine. Wir machen nichts Besonderes. Unsere Gespräche kommen und gehen. Mal schweigen wir und mal lachen wir, aber eins ist klar: an diesem ersten Tag will niemand von uns mehr in sein Zimmer gehen und die Tür schließen. Ich will überhaupt nie wieder eine Tür in dieser Wohnung schließen. Ich will sie alle offen lassen. Den ganzen Tag und die ganze Nacht lang.